Bei der Feier der iF-Awards-Gewinner im Juli 2023 in Taipeh blickte René Spitz – Vorstandsmitglied der iF Design Foundation – auf 70 Jahre iF-Geschichte zurück. In seinem umfassenden Vortrag beleuchtete er die Themen Veränderung, Transformation und Fortschritt – „woher wir kommen, wo wir stehen und was das für uns bedeuten könnte“ – und definierte das Engagement für eine menschliche Zukunft als die Kernaufgabe des Designs.
Design als Teil der Moderne
Design ist ein neuer Begriff, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Realität benennt. Dieses Phänomen wurde vorher Industriekunst genannt. Design ist sowohl ein Kind der Moderne als auch ein Faktor, der den historischen Prozess der Moderne antreibt und stabilisiert.
Die Moderne ist im Kern kein ästhetisches Phänomen, sondern ein anderes Zeitverständnis: Vor der Moderne war die Vergangenheit wichtig, und Traditionen bestimmten, was, von wem, wie und warum etwas getan werden musste. Die Menschen ließen sich von dem leiten, was ihnen von ihren Vorfahren überliefert wurde.
Für die Moderne gilt das Gegenteil: Die Modernen blicken nicht zurück, sondern nach vorne. Die Vergangenheit hilft uns nicht, die Zukunft zu gestalten. Weil wir unsere eigenen Entscheidungen treffen müssen, müssen wir uns unsere eigenen Urteile bilden. Der moderne Mensch steht allen Behauptungen anderer grundsätzlich kritisch gegenüber. Denn mit der modernen Wissenschaft wird den Menschen klar, dass es sich bei vielen Glaubenssätzen und Überzeugungen aus der Vergangenheit tatsächlich um Aberglauben und Irrtümer handelt.
Für die Modernen ist die Zukunft nicht festgelegt, wir können sie gestalten. Jeder Einzelne ist dazu aufgerufen, seine Zukunft frei und autonom zu entwickeln. Deshalb ist die Moderne im Kern durch und durch politisch.
Der Erste Weltkrieg erschütterte allerdings den Fortschrittsglauben der Moderne. Alles, was sie der Menschheit für eine lebenswerte Zukunft versprochen hatte, verwandelt sich plötzlich in eine unmenschliche, unvorstellbar grausame Schlachtfabrik.
Der Kern des Bauhauses: Den Alltag als Kunst gestalten
Ohne diesen Schock für die ganze Welt ist das Bauhaus nicht verständlich. Was können die Modernen tun, um nicht zu verzweifeln? Walter Gropius und seine Kollegen suchen die Lösung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Sie wollen etwas Neues auf die Beine stellen, denn das Alte hat in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt. Sie wollen neue Formen entwickeln, um die Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft, die sich von den alten Traditionen befreit hat. Die Kunst dient ihnen als Leitfaden. Denn für die Gründer des Bauhauses ist Kunst international, eine verbindende Kraft für die Menschheit. Kunst ist die Lösung der Frage, wie die Gesellschaft in eine friedliche und freie Gesellschaft umgewandelt werden kann.
Das Bauhaus ist die einflussreichste Kunstschule des 20. Jahrhunderts. Ihr Ziel ist es, Kunst in den Alltag zu übertragen. Das Instrument dazu ist die Architektur: Das Haus ist der Mittelpunkt, alles ist darauf ausgerichtet, das Gebäude als Gesamtkunstwerk zu gestalten. Als Partner kommt dann die Industrie hinzu, insbesondere am Bauhaus Dessau. Dabei entstehen Entwürfe, die den künstlerischen Regeln einer neuen Ästhetik, der sogenannten Industrieästhetik, unterliegen. Obwohl es ein Widerspruch in sich ist, spricht man schnell vom Bauhaus-Stil: Eigentlich sollten Stile überwunden und jede Form eigenständig aus ihrer Aufgabe heraus entwickelt werden. Dass diese Überzeugungen und Ziele durchaus politischer Natur waren, zeigt sich schon daran, dass die herrschenden Politiker das Bauhaus verachteten und bekämpften.
Demokratischer Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg starteten in ganz Deutschland demokratische Initiativen. Die gestalterisch wichtigste entstand in Ulm, wo die Hochschule für Gestaltung (1953–1968) gegründet wurde. Für sie sind alle Traditionen fragwürdig geworden, da sie die Machtergreifung und das tägliche Terrorregime der Nationalsozialisten nicht verhindert hatten. Die HfG lehnt auch die Idee ab, dass die Kunst den Maßstab für ein vollkommenes Leben bildet.
Wir erkennen in den frühen 1950er Jahren überall eine Spannung zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen Wiederaufbau und neuen Formen. Es ist wie das Nebeneinander sichtbarer Zerstörungen durch den Krieg und neu errichteter Straßen und Gebäude mit neuem Autoverkehr. Gleichzeitig gibt es immer noch einige wichtige und kraftvolle Initiativen, die nicht umbauen, sondern eine neue Zukunft entwickeln wollen. Zum Beispiel in Hannover. 1947 hatte die britische Militärregierung die Durchführung der Industriemesse hier organisiert.
1953: Die Geburtsstunde von iF
1953 veranstaltete die Deutsche Industrie-Messe ihre erste Ausstellung ausgewählter Produkte unter dem Titel „Sonderschau formgerechter Industrieerzeugnisse“. Diese Initiative wurde von Vertretern aus Wirtschaft, Kultur und Politik gegründet. Sie wollten zu einer friedlichen, freien und demokratischen Zukunft beitragen. Sie waren davon überzeugt, dass Design gleichermaßen soziale, produktionstechnische, wirtschaftliche, funktionale, kulturelle und ästhetische Aspekte umfasst. Aus heutiger Sicht gesagt: Sie wollten Design als Kernbestandteil der Nachhaltigkeit fördern. Das war die Geburtsstunde des iF. Aus dem Titel der ersten Buchveröffentlichung im Jahr 1954 „GESTALTETE INDUSTRIEFORM IN DEUTSCHLAND“ leitet sich der Name ab: iF ist eine Abkürzung für Industrieform.
Die Ernüchterung der späten 1960er Jahre
Ende der 1960er Jahre wurde offensichtlich, dass die Moderne ihre Versprechen nicht eingehalten hat. Die Welt war nicht friedlicher, freier, gerechter und menschlicher geworden. Die modern gestaltete Welt war nicht besser geworden, nur anders. Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steve Izenour legten den Finger auf die Wunde, als sie sich darüber lustig machten, dass mitten in der Wüste von Nevada eine Stadt wuchs und gedieh, die in der Moderne eigentlich nicht existieren sollte. Eine Stadt, die sich in keinster Weise um die ästhetischen Regeln scherte, die zu einer besseren Gesellschaft führen sollten. Hier ging es um nichts weiter als Spaß und Unterhaltung, eine lustige Fassade und eine auffällige Dekoration. Das Symbol ist hier wichtiger als die Substanz. Ironie wurde Ende der 1960er Jahre zum bestimmenden Ton jeder Erzählung – die vor allem unterhaltsam sein musste. Wer es ernst meinte, wurde ausgelacht. Die historischen Formen wurden als Repertoire für Zitate und Collagen entdeckt. Es gab keinen Fortschritt oder Perfektion mehr, nur noch Transformation. Und der Sinn des Konsums ist der Konsum von Sinn. Design steckte mitten in dieser Debatte, als die Digitalisierung Einzug hielt.
Design im 21. Jahrhundert: Umgang mit bösartigen Problemen
Seitdem haben wir eine neue Debatte. Die moderne Welt ist eine Welt des Designs. Im 20. Jahrhundert hat Design hat das Verschwinden vormoderner Dinge verursacht. In der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts verschwinden die Dinge selbst. Unsere Welt, die moderne industrialisierte Welt, ist eine komplexe Welt. Sie ist durch sogenannte bösartige Probleme („wicked problems“) gekennzeichnet. Es gibt unendlich viele gegenseitige Abhängigkeiten. Sie können nicht von außen, von einer neutralen Position, untersucht werden. Wer die Probleme lösen will, ist weder unabhängig noch objektiv. Alle relevanten Aufgaben der Gegenwart sind solche „wicked problems“: Covid-Pandemie, Klimawandel, Massenkonsum, soziale Medien, Energie, Plastik, usw.
Schon vor 50 Jahren sprach der Club of Rome davon, dass es Grenzen des Wachstums gibt und wir neue Strategien entwickeln müssen, um die drängenden gesellschaftlichen Aufgaben zu meistern. Dieser Bericht öffnete die Türen zur Nachhaltigkeit. Eine weitere Kernaussage in diesem Bericht lautete aber auch: Bildung ist erforderlich, um diese Herausforderungen zu verstehen und sie zu meistern.
Unsere Aufgaben sind keine einfachen, sondern bösartige Probleme. Aber wir orientieren uns meist noch an Lösungen des 20. Jahrhunderts für einfache, sogenannte zahme Probleme. Zahme Probleme sind gelöst. Leider geben wir immer wieder neue Antworten und ignorieren, dass die Frage bereits beantwortet ist. Mittlerweile ist jedoch die einfache Gestaltung einfacher Werkzeuge keine Lösung, sondern ein Problem.
Wir brauchen Bildung, wenn wir mit den gegenwärtigen komplexen und bösartigen Aufgaben umgehen wollen, mit Unsicherheit, Widersprüchen, unterschiedlichen Interessen und Perspektiven. Kritisches Denken braucht Bildung. Einfache Antworten führen zu Hass und Zerstörung.
Designing Design Education
Als wir 2015 gebeten wurden, eine Designhochschule für das 21. Jahrhundert zu entwickeln, klang das wie eine einmalige Chance. Um diese Aufgabe besser zu verstehen, sind wir um die ganze Welt gereist und haben mit Hunderten von Menschen gesprochen. Wir gingen in Designschulen, Designstudios und in die Industrie. Wir wollten von unseren Gesprächspartnern lernen. Im Grunde hatten wir nur eine Frage: Ist das, was an Designschulen gelehrt wird, das, was für die Zukunft des Designs benötigt wird? Vor zwei Jahren haben wir unsere Ergebnisse veröffentlicht: Designing Design Education: Weissbuch zur Zukunft der Designlehre.
Im vergangenen Oktober haben wir unser neues Forschungsprogramm für die nächsten drei Jahre gestartet, um Antworten zu geben, wie dieses neue Designausbildungsprogramm umgesetzt werden kann. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Wir kombinieren Impulse zu den aktuellen Diskursen mit praktischen Workshops und Reflexion. Unsere Mission ist es, zu einer Entwicklung beizutragen, die zu einer Designausbildung für eine menschliche Zukunft führt. Es wäre großartig, wenn Sie gemeinsam mit uns eine neue Lerngemeinschaft aufbauen.