Sushi Suzuki, außerordentlicher Professor am Kyoto Institut für Technologie sowie am Kyoto Design Labor, hat für das „Weißbuch“ einen erhellenden Essay über Design und traditionelles Handwerk in Japan geschrieben.
Design und traditionelles Handwerk in Japan
Kyoto wird oft als die historische Hauptstadt Japans bezeichnet. Aus Japan und der ganzen Welt kommen Touristen, um die Tempel, Schreine, Paläste, Märkte und historischen Viertel anzuschauen. Dabei wissen die meisten Besucher nicht, dass viele dieser Sehenswürdigkeiten nicht alt und erhalten, sondern neu sind. (…)
Ich bin nach Japan zurückgekehrt, nachdem ich 22 Jahre in den USA und Europa gelebt hatte. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass die westlichen Gesellschaften dazu tendieren, die »Hardware« zu erhalten, wie die Architektur, Monumente und Fassaden, während in der japanischen Kultur eher die »Software« bewahrt wird, wie zum Beispiel Traditionen, Gepflogenheiten und Techniken. Feste werden in Japan immer auf ausgesprochen altmodische Weise und in ihrer ursprünglichen Form begangen. Trotz Internet und LinkedIn findet immer noch der Austausch von Visitenkarten statt. Diese Erhaltung der Tradition erstreckt sich auch auf Produktionsverfahren. Während die Technologie die Produktionsprozesse drastisch verändert, hält Japan an seiner traditionellen Handwerkskultur fest.
In Japan gibt es überall auf dem Land Läden und Informationszentren, die dem überlieferten Handwerk der jeweiligen Region gewidmet sind. Neben den regionalen Spezialitäten kann man hier traditionelle Handwerksprodukte erwerben, die schon seit Jahrhunderten auf die gleiche Weise hergestellt werden. Das steht im krassen Gegensatz zu Europa, wo in wunderbar erhaltenen Burgen, Palästen und Kirchen Souvenirs verkauft werden, die nichts weiter sind als billiger Tand, in Ländern hergestellt, in denen es billige Arbeitskräfte gibt.
„Für die Designerinnen und Designer der Zukunft wird neben ihrer Kreativität [das] Vermögen wesentlich sein, die sich verändernden Werte und Ziele nachvollziehen zu können. Vorbei sind die Zeiten, als ein wirtschaftlicher Erfolg im Markt das einzige Kriterium für Erfolg war.“
Sushi Suzuki
Der Niedergang des traditionellen Handwerks in Japan
(…) Seit der industriellen Revolution beruht das Wirtschaftswachstum vorrangig auf einer Verbesserung und Optimierung von Produktionsmethoden. Ein Großteil unseres modernen materiellen Wohlstands rührt daher, dass mit weniger Ressourcen und Zeit mehr hergestellt werden kann. Das traditionelle Handwerk, welches nicht nur das Endprodukt, sondern auch das Produktionsverfahren schützen möchte, läuft insofern langfristig gegen den makroökonomischen Trend. In vielen Branchen hat man die traditionellen Techniken aus Effizienzgründen zugunsten von Massenfertigung und Automation abgeschafft. Während in manchen Marktnischen der Lebensmittel- oder Getränkebranche einige Produkte immer noch auf Basis der althergebrachten arbeitsintensiven Verfahren hergestellt werden, hat doch ein Großteil in Infrastruktur investiert, um mit weniger Arbeitskräften mehr produzieren zu können. (…)
In funktionaler Hinsicht bieten Produkte des traditionellen Handwerks keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber den modernen Alternativen. In einer fein lackierten Schale ist die Suppe nicht besser aufgehoben als in einer industriell gefertigten Keramikschüssel. Und Kimonos und traditionelle japanische Kleidungsstücke besitzen im Hinblick auf Komfort und Benutzerfreundlichkeit eindeutig eine geringere Funktionalität. Die meisten Kimonos dürfen nicht in der Maschine gewaschen werden. Formelle Kleidung, insbesondere für Frauen, ist derartig schwer anzuziehen, dass es dafür spezielle Hilfe von Experten gibt. Daher wurde der Kimono weitgehend durch westliche Kleidung ersetzt, außer bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Beerdigungen und Graduierungsfeiern, und auch dann ist er nicht mehr die Norm. Durch die zunehmende Sparsamkeit sind Kimonoverleihe entstanden, die der Branche noch zusätzlich zu schaffen machen. Die Herstellung von Kimonos war in Kyoto noch zu der Zeit, als ich dort aufwuchs, eine der bedeutsamsten Branchen, in der etliche Freunde und Familienmitglieder arbeiteten. Heutzutage arbeitet dort keiner mehr.
Die Stagnation des japanischen Haushaltseinkommens ist mit der Globalisierung und der Entwicklung Chinas zur Fabrik der Welt zusammengefallen. Das hatte zur Folge, dass es für traditionelle Handwerksprodukte immer mehr billige Alternativen gab. (…)
Beim Verfassen dieses Aufsatzes wurde mir bewusst, dass ich kaum traditionelle Handwerksprodukte besitze, und dies trifft vermutlich auf die meisten jungen Leute zu. Während meiner Reisen durch Japan habe ich viele Läden mit traditionellem Handwerk besucht. Das ist nicht verwunderlich, da in den Regionen gleichermaßen für Tourismus und traditionelles Handwerk geworben wird. Ich schaue mir die Produkte sehr gerne an, kaufe jedoch nur sehr selten etwas. Wahrscheinlich gibt es viele Leute, die, wie ich, diese Läden im Prinzip wie Museen nutzen. Die Kunstfertigkeit und die raffinierten Details finde ich beeindruckend, aber am Ende entscheide ich mich doch für die preiswertere Alternative. Leute wie ich sind insofern auch mit für den Niedergang des Handwerks verantwortlich. (…)
Die aktuelle Lage des traditionellen Handwerk in Japan
Das bedeutet nicht etwa, dass das traditionelle Handwerk in Japan nicht mehr existieren würde. Im Vergleich zu anderen Industrieländern, in denen das traditionelle Handwerk fast verschwunden ist, scheint die Szene in Japan vielleicht geradezu quicklebendig. Viele der traditionell hergestellten Produkte sind jedoch vom Aussterben bedroht. Neben einem zunehmend schwindenden Absatz ist auch mit dem Älterwerden der Handwerker die Frage von Nachfolgern ein Problem. Da die Tradition größtenteils durch die Ausbildung von Lehrlingen weitergegeben wird, ist die Handfertigkeit für immer verloren, wenn die Linie einmal unterbrochen ist. Es gab eine Zeit, als es üblich war, dass Kinder einen Familienbetrieb fortführten, aber das ist nicht mehr der Fall. Viele Kinder von Handwerkern wählen eine andere berufliche Laufbahn, wobei die soziale Stigmatisierung für diese Entscheidung kaum noch eine Rolle spielt. Da das traditionelle Handwerk als harte Arbeit für geringen Lohn betrachtet wird, möchten immer weniger junge Leute eine solche Ausbildung machen. (…)
Der Wunsch, etwas bewahren zu wollen, ist uns quasi angeboren. Deshalb haben wir Museen und Paris sieht so aus, wie es aussieht. Die Vergangenheit und die Erinnerung sind irgendwie tröstlich. Kultur erfüllt uns mit einem Gefühl von Identität und lässt uns eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen spüren, die die gleichen Werte und die gleiche Geschichte teilen. Was Japan vom Westen unterscheidet, ist, dass die Kultur nicht in Form von architektonischen Relikten oder Objekten überliefert ist, sondern im Handwerk und den Produktionsverfahren und damit durch die Menschen, die dieses Handwerk ausüben. Ein Objekt kann durch sorgfältige Erhaltungsmaßnahmen und regelmäßige Restaurierung für immer bewahrt werden. Bei einer Kultur, die durch Menschen verkörpert und von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist das nicht so einfach. Menschen brauchen Essen, Kleidung und einen Ort zum Leben. Und damit das traditionelle Handwerk wirtschaftlich erfolgreich sein kann, braucht es Abnehmer.
Traditionell arbeitende Handwerker, mit denen ich gesprochen habe, haben mir immer wieder versichert, dass es ihnen nicht nur um die Bewahrung der Vergangenheit gehe. Während sie die Traditionen am Leben erhalten, möchten sie auch auf ihnen aufbauen. Das japanische Konzept Shuha-ri (守破離) für die drei Stufen des Lernens bis zur Meisterschaft lässt sich sinngemäß als »Bewahren, Brechen, Aufbrechen« übersetzen. Die zugrunde liegende Idee ist, dass man beim Erlernen eines Handwerks oder einer Fertigkeit zunächst die Tradition bewahren und befolgen soll. Sobald das Gelernte gut verstanden und verinnerlicht ist, kann die Tradition, wo dies erforderlich ist, aufgebrochen und können eigene Veränderungen hinzugefügt werden. Als Meister des Handwerks kann man sich von der Tradition lösen und diese erweitern oder gar eine eigene Tradition kreieren. Traditionell arbeitende Handwerker begegnen der Vergangenheit zwar mit großem Respekt, aber sie sind nicht konservativ. (…)
Anmerkung der Redaktion: Außerdem stellt Sushi Suzuki im weiteren Verlauf die Werdegänge drei ausgewählter Unternehmen vor, welche ihre Tradition erweitert und sich erfolgreich an das 21. Jahrhundert angepasst haben. Nachzulesen in: „Designing Design Education – Weißbuch zur Zukunft der Designlehre“