August 2022

Michele De Lucchi im Gespräch über heutige Anforderungen an die Designausbildung

Michele De Lucchi zählt zu den wichtigsten Designern und Architekten unserer Zeit. Die Entwürfe des 1951 in Ferrara geboren Italieners wie etwa die ikonische Tolomeo-Leuchte von Artemide haben sich in das kollektive visuelle Gedächtnis eingebrannt. Als Mitbegründer zweier bedeutender Designbewegungen des 20. Jahrhunderts – Alchimia und Memphis – hat er Geschichte geschrieben. Mit seinem Söhnen Pico und Arturo hat die nächste Generation Einzug gehalten in den multidisziplinären Kreis von Kreativen, als den Michele De Lucchi das Studio AMDL Circle heute begreift.

„Unpersönliches Design hat keinen Wert, und ein Designer muss lernen, seinen eigenen Beitrag im Verhältnis zu dem der anderen ständig neu zu bewerten.“

Michele De Lucchi
Designer, Architekt, Mitbegründer von Alchimia und Memphis, Begründer von AMDL Circle

Sie haben viele Jahre lang in Venedig Design gelehrt. Was würden Sie heute anders machen?

Mein Unterrichtsstil hat sich im Laufe der Zeit stark verändert, und es gibt zwei Gründe, warum ich ihn auch zukünftig weiterentwickeln möchte: Der erste bezieht sich auf die Veränderung, der historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, während der zweite eher persönlich begründet ist und mit meinem eigenen Weg und meiner Entwicklung zusammenhängt.

Vor zwanzig Jahren war mein Unterricht eher praktisch ausgerichtet. Ich habe versucht, den Studierenden unternehmerisches Denken nahezubringen, denn als Designer ist man nur dann richtig gut, wenn man auch die Industrie, die Produktion und den Markt, für den man arbeitet, versteht. Heute habe ich einen eher theoretischen Ansatz und fordere die Studierenden auf, abstrakte Konzepte und Werte in Produkte zu übertragen, wobei diese jeweils in der Endphase des Gestaltungsprozesses greifbar werden müssen. Außerdem behandle ich Themen nicht so sehr auf der Basis fachbereichsbezogener Aspekte, sondern eher aus einer multidisziplinären Sichtweise, um jungen Designern eine umfassendere Perspektive zu vermitteln.

Der Beruf des Designers hat sich stark verändert, weil technologische Innovationen die Werkzeuge und Prozesse, die im Design und in der Herstellung von Prototypen angewendet werden, verändert haben, aber auch, weil sich die Themen, über die wir nachdenken und zu denen wir einen Beitrag leisten sollten, verändert haben. Als Designer sind wir auch wesentlich achtsamer geworden, was ein gesundes Ökosystem, eine ausgewogene Verteilung von Wohlstand und zukünftige soziale Probleme betrifft.

Anlässlich eines Symposiums europäischer Designprofessoren wurde das Konzept des „Denkens mit den Händen“ als Modell für das 21. Jahrhundert genannt, ein Begriff aus der Renaissance. Was halten Sie davon?

Dieser Idee fühle ich mich sehr verbunden, obwohl wir nicht davon ausgehen sollten, dass Hände Maschinen ersetzen können oder Maschinen Hände verdrängen werden. Diese beiden Werkzeuge existieren nebeneinander und müssen das auch weiterhin tun. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, dass wir ohne Maschinen und Automatisierung den Einsatz der Hände und den Wert von handwerklichen, mit Leidenschaft hergestellten Dingen nicht ausreichend schätzen würden.

Ob als Künstler, Designer oder Architekt – man hat den Eindruck, Michele de Lucchi „denkt“ mit dem Zeichenstift. Überall im Studio liegen oder hängen Handskizzen auf Papier. „Tatsächlich zeichne ich sehr viel mit Bleistift und trage immer ein Bündel Papier bei mir. Ich skizziere oft auch nebenbei, in Gesprächen oder Meetings,“ sagt er.

Autorendesign versus kollaboratives Design im 21. Jahrhundert: Wie sehen Sie das?

Ich glaube nicht, dass es da einen wirklichen Unterschied gibt, denn „Autorengeist“ ist sowohl beim allein arbeitenden Designer als auch bei der Arbeit im Team gefragt. Unpersönliches Design hat keinen Wert, und ein Designer muss lernen, seinen eigenen Beitrag im Verhältnis zu dem der anderen ständig neu zu bewerten. Ich bin mit diesem Thema vertraut, weil ich als Autorendesigner gelte und den AMDL CIRCLE gegründet habe, wo wir mit kollaborativen Designprozessen experimentieren.

Im Circle setze ich mich dafür ein, dass „mehrhändiges“ Design nicht durch einen Mangel an Identität disqualifiziert wird, dass Entscheidungen demokratisch verteilt werden und auf ein gemeinsames Ergebnis ausgerichtet sind, bei dem die einzelnen Beiträge harmonisch ineinandergreifen und Mehrwert schaffen. Jeder im Team braucht ein „Expertenauge“. Ich selbst bin als Architekt ausgebildet, und ich glaube, das beeinflusst meine Herangehensweise sehr, denn ein Architekt kann nichts alleine machen und muss mit sehr großen und offenen Teams in Dialog treten.

Wird sich Ihrer Meinung nach künstliche Intelligenz auf den Designprozess auswirken, und wenn ja, wie wird sie ihn beeinflussen?

Ja, sie wird sich auswirken, und sie wird uns sehr dabei helfen, den Wert unserer rationalen Qualitäten in Kombination mit unseren emotionalen Qualitäten zu verstehen. Wie alle großen menschlichen Errungenschaften birgt KI sicherlich auch Gefahren, man denke nur an die Entdeckung des Feuers in der Vorgeschichte oder, in jüngerer Zeit, an die Entwicklung der Kernenergie. Alle Innovationen bergen sowohl Risiken als auch Vorteile. Zu lernen, wie man KI in jeder Form, in der sie auftritt, gut nutzen kann, wird von entscheidender Bedeutung sein. Und dies muss auch ein Ziel in der Ausbildung neuer Designer werden.

Was müssen junge Menschen in Designstudiengängen Ihrer Meinung nach vor allem lernen, wenn es um KI geht?

Mir ist zunächst einmal die Unterscheidung zwischen rationaler und emotionaler Intelligenz wichtig. In unseren Gehirnen stehen die beiden Hemisphären ständig im Dialog, und wir wissen sicher, dass es nie einen rein rationalen oder rein emotionalen Ansatz geben kann. Selbst wenn es jemanden gäbe, der davon überzeugt wäre, absolut rational zu handeln, dann würde diese Aussage bereits ein gutes Maß an Emotionalität offenbaren.

„Zu lernen, wie man KI in jeder Form, in der sie auftritt, gut nutzen kann, wird von entscheidender Bedeutung sein. Und dies muss auch ein Ziel in der Ausbildung neuer Designer werden.“

Michele De Lucchi
Designer, Architekt, Mitbegründer von Alchimia und Memphis, Begründer von AMDL Circle

Wo sehen Sie die größten regionalen Unterschiede in der Designausbildung (Europa – USA – Asien oder Italien – Deutschland – Skandinavien)?

Der Unterschied liegt im Lebensstil, auf den man sich bezieht, und im Bestreben, eine immer bessere Lebensqualität zu erreichen. Ich persönlich bin der Meinung, dass Gesellschaften, die den individuellen Wert des Einzelnen und die Vielfalt fördern, förderungswürdig sind. Ohne Vielfalt gibt es keinen Innovationsschub, es wird nicht mit Alternativen experimentiert und die ungewöhnlichsten und originellsten Ideen werden abgeschmettert. Deshalb bin ich ein Befürworter des italienischen Designs: wegen seiner kreativen Kraft und seiner ständigen Suche nach neuen Formen, neuen Materialien und neuen Anreizen jenseits von funktionaler Strenge und Marktlogik.

Als Architekten gehen wir davon aus, dass das Entwerfen keine rein technische Tätigkeit ist und dass wir dabei auch das Verhalten derjenigen mitgestalten, die die von uns entworfenen Räume nutzen werden. Ich glaube, dasselbe gilt auch für Designer: Sie sollten sich darüber bewusst sein, dass sie mit ihren Entwürfen auch in das Verhalten derer eingreifen, die ihre Produkte benutzen werden.

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